„So wollte ich doch nie leben!“
„Liebe Sarah,
deine Gedanken über Rollenverteilung und die „ganze Wahrheit“ dahinter spricht mich sehr an… Es ist bei uns tatsächlich so, dass wir 50/50 arbeiten bzw. ich meistens etwas mehr, weil ich selbstständig bin und die geplante Zeit da natürlich manchmal nicht reicht.
Zusätzlich habe ich mehr Verpflichtungen (Lokalpolitik, Kirchenvorstand) als er und mein Mann putzt gerne und erledigt damit im Haushalt automatisch so viel wie ich, manchmal auch mehr.
Trotzdem (!) sind wir uns beide bewusst, dass ich deutlich mehr Gedanken in die Planung der Familie, Haushalt, Urlaub, Kinderbetreuung, Erziehung, investiere und das auch schon Arbeit ist die kaum mit klassischer Arbeit oder Haushalt verglichen wird.
Außerdem ist es natürlich so, dass sich unsere sehr gerechte Rollenverteilung besonders aus meiner Selbständigkeit ergibt. Es passt für uns so, ist aber nicht selbstverständlich! Und was mich dann immer noch umtreibt, es gibt in meinem Umfeld keine Familie gibt bei denen es so ist wie bei uns und ich denke, dass viele sich da etwas in die eigene Tasche lügen und sich vor Ehe/Kindern für sehr feministisch halten und dann ist alles etwas vergessen!“
Achja,
zunächst einmal freue ich mich total über deine Nachricht! Es lässt mich echt hoffnungsvoll in die Zukunft schauen, wenn ich von solchen Familienmodellen lese – nicht weil es das einzig richtige ist. Aber weil es mal eine erfolgreich gelebte Alternative zum traditionellen Rollenmodel ist.
Und ich glaube, du hast vollkommen recht, dass wir uns so oft in die eigene Tasche lügen – auf so vielen Ebenen. Zum einen hat der Feminismus ja schon eine lange Geschichte und einige Wellen hinter sich und entwickelt sich immer wieder weiter und breiter. Was früher mal feministisch war ist es heute längst nicht mehr. Thorsten Dietz erzählt im Podcast „Karte & Gebiet“ zum Thema Gleichberechtigung selbstkritisch: „Ich wusste wie man Kinder wickelt und sogar wie man sie beruhigt. Dafür wurde mir applaudiert.“ Was einmal fortschrittlich war, zum Beispiel, dass Männer Kinder wickeln, ist Gott sei Dank längst selbstverständlich und bedarf hoffentlich keinem Applaus mehr. Allerdings habe ich den Eindruck, dass viele – ich sage es bewusst mal so provokant – weiße Männer über 50 irgendwo stehen bleiben und den Eindruck haben, dass sie sich schon so viel bewegt haben in ihrem Leben und sich für total fortschrittlich halten, wenn sie nach wie vor die Errungenschaften von vor 30 Jahren hoch halten. Diese Männer füllen viele leitenden Ämter in Politik und Kirche aus und noch vor wenigen Jahren habe ich einen Pastor stolz von der Kanzel erzählen gehört, dass Männer und Frauen in „unseren“ Augen gleichwertig aber nicht gleichartig sind, als wäre diese Erkenntnis der neuste Shit. Tatsächlich war es vor vielen Jahrzehnten in der Aufklärung eine Aufwertung der Frau. Und heute ist es ganz klar eine Abwertung, denn wir kennen bereits die Chancenungleichheit, die sich daraus abgeleitet hat.
Und dieses Problem findet natürlich nicht nur auf kirchlicher oder politische Ebene seinen Schauplatz, sondern in den tiefsten Strukturen unserer Gesellschaft: In den individuellen, persönlichen Beziehungen unserer Familien. Viele Männer kommen in die Paarbeziehung und finden sich sehr aufgeklärt und auf Augenhöhe mit Frauen. Sie selbst spüren keinen Leidensdruck und auch viele kinderlosen Frauen, erleben die strukturelle Ungerechtigkeit nicht bewusst.
Oft wird erst mit dem ersten Kind die Retraditionalisierung in Gang gesetzt. Eigene Erfahrungen, tief empfundenes Männer- und Frauenbild, Elternzeit- und Elterngeld und gesellschaftliche und familiäre Erwartungen führen meistens ganz selbstverständlich dazu, dass Frauen die Rolle der Hausfrau- und Mutter ausfüllen. Dabei sind das zwei Rollen, die man fast komplett voneinander trennen könnte.
Ich selbst habe es genauso erlebt. Mit der Geburt meines ersten Kindes wurde auch eine Mutter geboren: Ich. Und ich habe Glück, dass ich diese Rolle freiwillige gewählt habe und große Freude an ihr hatte und immer noch habe. Es ist wirklich die schönste Aufgabe für mich! Mit den Jahren verstand ich, dass es auch Frauen gibt, denen es nicht so geht. Und, dass das erstmal keine Bewertung braucht.
Doch nach einer kurzen Honeymoon-Mamaglück-Zeit bemerkte ich all die Dinge, die mir nun auf Grund von dieser Rolle verwehrt blieben – für meinen Mann aber zunächst weiterhin selbstverständlich waren: Berufliche Weiterbildung, selbstbestimmte Freizeitgestaltung, eigenes Einkommen, Einzahlen in die Rentenkasse… Ich fühlte mich unwohl und mein System begann zu ruckeln. Etwas stimmte nicht und ich sprach und schrieb „Frauen, die keinen Punkt machen, wo Gott ein Komma setzt.“, rang auch in und nach dem Buch und finde nun langsam klarere Worte. Ich kann nun benennen, was damals nicht stimmte – und ich habe keine Angst mehr es zu teilen.
„So wollte ich nie leben!“ habe auch ich mehr als einmal gesagt. Und man schob mir Verletzungen aus der eigenen Kindheit, fromme Argumente, Angst vor Abhängigkeit und so vieles mehr zu. Als Frau, die sich entschieden hatte reflektiert und selbstkritisch zu sein, nahm ich jedes Argument, ließ es an mein Herz und prüfte es dort. Und ja, von einigem ging Heilung aus. Von anderem noch mehr Verletzung. Manches war einfach Salz in die Wunde – und dabei war es gar nicht nur meine Wunde. Es war unsere. Unserer aller Wunde.
Denn die strukturelle Retraditionalisierung mit der Geburt des ersten Kindes ist ein Phänomen, das sich durch die ganze Gesellschaft zieht. Es ist keine christliche und erst recht keine individuelle Entwicklung und es ist auch ansich kein Problem ein traditionelles Familienmodell zu leben. Nur es unreflektiert von allen – und sich selbst – zu erwarten, sobald sich das erste Kind ankündigt, es als einzig und richtig zu verstehen, es automatisch zu leben ohne sich dafür zu entscheiden und sich dabei für emanzipiert und feministisch zu halten ist falsch. Ja, ich glaube da lügen wir uns tatsächlich in die eigene Tasche und ich wünsche mir, dass „ So wollte ich doch nie leben“ frei und offen ausgesprochen werden darf. Dass keine Schuld und Scham dieses Eingeständnis unterdrückt und Frauen denken lässt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, wenn sie so fühlen. Es ist nicht falsch das zu denken und zu sagen. Und aus dieser Erkenntnis kann ganz viel Freiheit und Frieden wachsen.
Oder was sagt ihr dazu?
Ich habe nach einiger Zeit des „Mutter-Seins“ gemerkt, das ich so viele Floskeln, die ich in all den Jahren gehört und verinnerlicht habe, einfach nachgeredet habe. Irgendwann habe ich gespürt, das es doch garnicht stimmt, was ich da sage, ich habe es mir nicht „immer so gewünscht“ und „finde es in unserem Familienmodel toll, zuhause zu sein“.
Ich habe 25 Jahre lang viel Gearbeitet und gutes Geld verdient, bekam Anerkennung für meine Arbeit und wurde mit Sonderzahlungen belohnt, war selbständig und unabhängig und jetzt… Zwei Jahre Elterngeld bei 5,5 Jahren Elternzeit. Das diese Idee nicht passt, erklärt sich von selbst aber ich/wir haben sie gewählt und ich komme mit diesem Gefühl der Abhängigkeit von meinem Mann nicht gut klar.
Mein Mann erledigt wirklich viel im Haushalt, macht viele Arbeiten einfach ungebeten oder ungefragt (was ja eigentlich selbstverständlich ist) und doch ist es wie bei deiner Leserin, die Gedanken um Familie, Urlaub, Partys, Freizeitgestaltung, Arzttermine, Freundschaften pflegen etc. bleiben irgendwie immer bei mir. Mittlerweile glaube ich tatsächlich, weil wir es einfach besser können. Weil durch die Schwangerschaft etwas mit uns passiert, was die Männer nicht aufholen können. Es ist einfach in uns, in der weiblichen DNA.
Vielleicht wurde es doch in der Schöpfung so vorgesehen und wir suchen immer wieder Bibelstellen und Argumente um etwas zu finden, womit wir uns unsere Idee von Feminismus schönreden können?
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Liebe Sarah,
Mir ging es ähnlich wie dir: Mit dem ersten Kind bin ich so in der Aufgabe des Mutter-Seins aufgegangen, dass ich unsere Retraditionalisierung gar nicht bemerkt habe. Und ich bin immer noch gerne Mutter – von fünf Kindern.
Mit der Zeit habe ich aber bemerkt, dass mich das Eltern-Sein so viel mehr Kraft kostet als meinen Mann. Und dass das so nicht sein muss. Dass man umlernen kann und darf und dass das nichts mit Selbstbezogenheit zu tun hat.
Ich habe aber auch gelernt, wie sehr Strukturen wie der Gender Pay Gap der Gleichberechtigung im Wege stehen und wie viel Arbeit auch politisch noch notwendig ist.
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