6. April 2020, Hamburg
Ich komme nicht an meine Gefühle ran. Sie sind irgendwo unter vielen, vielen Lagen in meiner Seele begraben. Eingefroren in die globele Krise, warten sie dort auf bessere Tage. Eine Lage nennt sich „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.“ Sie will gern noch verdrängen und denen zuhören, die auch verdrängen. Sie will, dass alles wieder wird wie vorher. Hier nennt man diese ganze Sache einen „Spuk“ und die globale Krise ist das, was aus dieser Sache gemacht wird und nicht die wirkliche Gefahr des Virusues. Und am Liebsten würde ich zu denen gehören, die diese Sicht der Dinge jetzt schon prophezeien und am Ende Recht behalten, während alle anderen gebückten Hauptes versuchen die Wirtschaft zu reparieren. Doch diese Schicht wird immer dünner. Sie reibt sich durch die Zahl der tausenden Toten ab.
Gestern habe ich das hier auf Facebook gelesen:
„Äthiopien 2019, Top 10 Todesursachen:
Neonatale Störungen
Durchfallerkrankungen
Infektionen der unteren Atemwege
Tuberkulose
Ischämische Herzkrankheit
Schlaganfall
HIV/AIDS
Zirrhose
Meningitis
Protein-Energie-Mangelernährung
Das ist meine größte Frustration mit dem COVID-19! Die ganze Welt wird verrückt, weil ein Virus die Menschen wirklich krank macht, die Mehrheit erholt sich, und ja, einige sterben, aber hier in Äthiopien sterben wir an Dingen, denen man an den Orten, an denen man lebt, nie begegnet. Viele Todesfälle in Äthiopien und Afrika sind auf vermeidbare Krankheiten/Viren zurückzuführen, und die Welt sieht einige der erstaunlichsten Menschen auf dem Planeten mit einem blinden Auge.
Wir sterben seit Jahrzehnten an Dingen, an die die entwickelte Welt nicht einmal denkt“.
(übersetzt in Deutsche von Carmen Gibson Post)
Und im ersten Moment bestätigt es meine Hoffnung das alles verdrängen zu können. Ich stimme hunderprozentig zu und es liegt mir auf den Lippen zu sagen: „Den Äthiopiern kann das nichts anhaben. Sie sind viel Schlimmeres gewohnt. Nur die westliche Welt macht ein riesiges Tam Tam daraus, während es hier nur eine weitere Krankheit ist.“ Aber das ist es: Eine weitere Krankheit. Eine weitere Krankheit an der die meisten nicht sterben müssen, aber es doch eben könnten, wenn es nicht genug medizinische Versorgung gibt. „In einem Land mit mehr als 100 Millionen Menschen gibt es insgesamt nur (…) 450 Beatmungsgeräte. Zum Vergleich: Der US-Bundesstaat New York, das derzeitige Zentrum der Pandemie, hat gesagt, dass er für eine Bevölkerung von etwa 20 Millionen Menschen Zehntausende von Beatmungsgeräten benötigen könnte. (in Deutsche übersetzt von africanews.com)
Ich sollte jetzt weinen. Aber das letzte Mal, als ich geweint habe war als Babak mich gefragt hat, ob ich nicht denke, dass es besser wäre nach Deutschland zu fliegen. Er denke, es wäre besser. Und eine tiefe, tiefe Traurigkeit fuhr mir durchs Herz. Ich wollte nicht weg! Ich war gerade angekommen, gerade hatte sich ein Alltag entwickelt. Und eine Vision. Ich hatte hier Träume, Ideen und einen Plan. Die Kinder sind hier zu Hause.
Aber die Entscheidung wurde getroffen und wir flogen. Seitdem funktioniere ich. Ich habe eingepackt, geputzt, organisiert, ausgepackt, organisiert, gearbeitet, versucht „das beste draus zu machen“, die Kinder getröstet. Doch wer tröstet dieses Herz, dass immer noch mit dem gleichen Schmerz mitgeflogen ist?
Noch kann ich nicht weinen. Denn da wird ein „Stell dich nicht so an.“ laut. Stell dich nicht so an, du musst nicht um deinen Job fürchten. Stell dich nicht so an, du musst nicht um deine Gesundheit fürchten. Stell dich nicht so an, sei lieber dankbar, dass ihr fliegen konntet. Stell dich nicht so an, es gibt viele – auch in Deutschland – denen es wirklich schlecht geht während du die regelmäßigen Spaziergänge genießt. Stell dich nicht so an, deine Pläne die jetzt durchkreuzt wurden, hat Gott trotzdem in seiner Hand. Hast du kein Vertrauen?
Stell dich nicht so an, es sterben immer noch tausende Menschen pro Tag an Hunger, es sterben mehr Menschen an Durchfall als an diesem bescheuerten Virus. Und du hast sie allein gelassen, hast dich und deine Familie in Sicherheit gebracht. Und jetzt willst du traurig sein? Deine Seele streicheln?
Und so verschmilzt mein persönlicher Schmerz mit einer großen Portion Weltschmerz, Ohnmacht und Scham. Und wir zu einem dicken Pfropfen, der sich vor meine Kehle setzt und meine Seele verstopft.
Ja, es gab schon immer Leid.
Ja, viele Menschen sterben.
Ja, der Unterschied zwischen Äthiopien und Deutschland ist ungerecht.
Die ganze Welt ist ungerecht.
Ja, es gibt Schlimmeres, als mit seiner Familie nach Deutschland zu fliegen.
Ja, es gibt Schlimmeres als sein zu Hause zu vermissen.
Es gibt Schlimmeres als sich fehl am Platz in der Heimat zu fühlen.
Es gibt Schlimmeres als die Zukunft nicht zu kennen.
Es gibt so viel Schlimmeres.
„Heult leise!“ fordert der Spiegel auf. „Jetzt ist hier eine Krise bei uns angekommen – für uns natürlich nur in der Wohlstandsvariante mit guten Krankenhäusern, guter Wirtschaftslage und gutem Sozialsystem -, und wir haben sofort Angst, dass der Klopapiernachschub zusammenbricht, oder verzweifeln an der existenziellen Frage: Was machen wir jetzt nur mit den Kindern zu Hause? Brettspiele? Und wie strukturiere ich bloß meine Arbeit im Homeoffice? Tja. Um diese Krisenprobleme beneidet uns vermutlich gerade die halbe Welt.“ heißt es. Und es ist wahr.
Werde ich mir merken, wenn ich dann irgendwann weinen kann, weine ich leise.
Es ist schon sieben Uhr. Die Kinder haben lange geschlafen, aber jetzt ist meine Zeit allein vorbei. Sie schlurfen in ihren Pyjamas ins Wohnzimmer und kuscheln sich auf meinen Schoß. Der Ort an dem sie weinen, schreien, vermissen können. Und an dem sie mir morgens erzählen, wie sie von Flugzeugen mit Bändern dran geträumt haben.
Ich umarme sie, küsse ihre noch bettwarmen Wangen. Und ganz langsam rollt eine Träne. Eine leise Träne der Dankbarkeit. Ich habe sie, diese wunderbaren Kinder. Ich habe sie hier. Ich bin gesegnet mit Wohlstand und Sicherheit. Ich bin dankbar – in all dem bin ich dankbar genug um zu weinen.
Ja, es gibt auch bessere Gründe dankbar zu sein. Die wird es immer geben. Genau wie die schlimmeren Dinge. Die gab es schon immer. Und das Vergleichen, das hat schon immer keinem geholfen.
Ich werde weinen. Irgendwann werde ich trauern, meine eigene Trauer. Und ich werde weinen, meine eigene Dankbarkeit. Und ich werde lebendig bleiben – auch in der Krise. Denn das es eine Krise ist, das will ich nicht länger verdrängen.
Mein Handy blinkt, als ich gerade meinen Computer schließen will. „Mit großer Trauer geben wir den zweiten Tod eines Patienten aus Covid19 in Äthiopien bekannt. Wir sprechen der Familie und den Angehörigen unser aufrichtiges Beileid aus.“ (übersetzt ins Deutsche vom Ethiopian Public Health Institute). Ja, es ist nur ein Toter unter vielen Toten – und doch ist es ein Toter. Einer um den man weint. Einer der es wert ist, dass man um ihn weint. Dessen Tot nicht weniger tot ist, als der der tausend Anderen.
Liebe Sarah, ich kann deine Empfindungen sehr gut nachvollziehen. Ich musste auch vor 10 Jahren aus verschiedenen Gründen mit meiner Familie aus meiner Wahlheimat Türkei ( ich hatte dirthin geheiratet, und meine erste Bedingung an meinen Mann war, nach dem Glauben an Jesus, dass er nie nach Deutschland wurde ziehen wollen) wieder nach Deutschland ziehen musste. Es war eine eigenartige Muschung aus Schmerz und Wut und Unverständnis, warum Gott das zulässt. Inzwischen komme ich hier gut klar, und so Gott will, eerden wir in 4 Jahren wieder zurückziehen können. Danke für deine ehrliche gut formulierte Ausführung. Ich bete für dich, dass Gott dich trägt und dir nach und nach Frieden gibt. Ich bete aber auch dafür, dass ihr wieder zurück nach Äthiopien könnt. Ich finde es nämlich richtig gut, wenn Leute bereit sind den Wohlstand und Komfort hier aufzugeben und in ein solches Land zu ziehen. Fühl dich ganz gerzlich umarmt, Deine Derya.
P.S. wir leben auch in Hamburg 🙂
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Ich weine mit!
Danke, dass du Worte findest für das, was unsere Seelen schreien und doch nicht formulieren können!
Sei gesegnet! Gott kennt deinen/ unsern/ aller Schmerz
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Hallo Sarah.
Wir sind nach Tansania gezogen und ihr nach Äthiopien. 2018. Wir haben zwei Kinder. Ihr auch. Nachdenken über die Rolle von Frauen und Männer (auch im interkulturellen Setting). Über diese Parallelen bin ich gestolpert nach dem ich dein Buch gelesen habe und dann im Netz nach dir gesucht habe. Es hat mich interessiert, ob ich noch mehr über diese „Querdenkerin“ herausfinden kann.
Ab und zu komme ich hier auf deiner Seite vorbei.
Heute möchte ich dir schreiben, denn wir sind auch wieder in Deutschland. Ich habe vor unserer Ausreise geweint, getobt… Jetzt funktioniere ich. Was kommt??
Ich wünsche euch viel Trost. Frieden. Mut und Perspektive.
Kathrin
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