Extreme ziehen mich irgendwie an. Letztens las ich von einer Frau, die sich entschieden hatte total minimalistisch zu leben. All ihr Hab und Gut passte in ein Regal und sie hatte sich total dem Konsumwahn entsagt. Am nächsten Tag hätte ich am liebsten gleich alles was ich habe verkauft! Ich habe dann direkt einen Instagram-Flohmarkt eröffnet um nicht so viel Zeug zu horten. Ein erster von vielen Schritten in Richtung meines neuen Lebenswandels – nahm ich mir vor.

Ich liebe auch Geschichten von Menschen die einfach so mit Sack und Pack ans andere Ende der Welt ziehen um sich dort nach ganz neuen Werten und mit ganz anderen Zielen für andere Menschen aufzuopfern. Wenn ich an Diäten denke, würde ich instinktiv gerne einfach eine Woche fasten – ganz oder gar nicht.

Ich liebe das Extreme. Es hat auf mich eine krasse Anziehungskraft. Es macht die Menschen – und mich in meiner Vorstellung – irgendwie besonders. Wie eine Auszeichnung. So wie ein einziges kleines Gänseblümchen auf einer grünen Wiese Gras. Eine Oase in der Wüste.

Und doch bin ich ganz schön normal. Mein Minimalismus ist nicht weiter als bis zu einem Flohmarkt gekommen. Gestern war ich davon noch total begeistert, und nehme auch ein paar Impulse daraus mit. Denke öfter mal „Brauch ich das wirklich?“. Aber das wars. Darüber kann man keinen Zeitungsartikel schreiben. Kein neuer, außergewöhnlicher Lebenswandel.

 

 

Ans andere Ende der Welt denke ich zwar häufig, aber meine Koffer stehen immer noch im Keller. Dort würde es ja auch alles schnell wieder normal werden, vermute ich. Und normal – das soll es ja eben gerade nicht sein!

 

Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.

-Vincent van Gogh

 

Aber wenn wir ehrlich sind, dann ist doch der größte Teil unseres Lebens ganz normal, oder? Meiner zumindest. Ich esse – nicht jeden Tag von so hübsch dekorierten Tellern wie die von Foodbloggern auf Instagram. Ich schlafe – in einem Bett. Matratze, Kissen, Decke – wie jede von uns. Ich dusche unter Wasser aus der Leitung. Ich atme die gleiche Luft wie du. Ich sauge und putze mein Klo. Ich gehe auf Toilette, ich putze meine Zähne.

 

 

Ab und zu passieren Highlights – die werden dann schnell mit dem Rest der Welt auf Instagram geteilt. Weil es so schön ist, wenn es mal kurz nicht normal ist. Und so kommt es, dass wir vielleicht so viele Highlights sehen, dass wir normal gar nicht mehr wollen. Vergessen haben, dass all das Normale normal ist. In meinem Kopf dreht sich ein Wettstreit, ein Eifer, eine Sucht nach dem Besonderen. Und das Besondere ist schon fast normal geworden. Also sehne ich mich nach dem Außergewöhnlichen unter all dem Besonderen. Ohne Ende.

Und dann esse, schlafe, dusche … ich wieder. Und das ist mein Leben. Es besteht aus einigen Highlights und aus ganz viel Normalität. Und vermutlich werden meine Kinder später einmal ein Spiegelbild davon sein, wie ich die Normalität gelebt habe. Alltag. Denn das ist doch auch unser Leben, oder? Dort wo niemand hinguckt, wo keine Fotos geschossen werden, wo man keine Masken trägt. Dort in Jogginghose und Pyjama. Dort in alten Turnschuhen auf dem Spielplatz. Dort beim Zähneputzen, Kochen, Putzen, zum Bus gehen, Parkplatz suchen, Einkaufen, Anziehen. Da ist unser Leben. Da sind wir. Hier. Heute. Ganz wir und ganz normal.

 

In einer verrückten Welt sind die verrückt, die normal sind.

– Robert Seifarth

 

Und vielleicht werde ich zu einer Frau, bei der Normal normal ist. Bei der das ok ist. Ich bin ok. Und du bist ok. Nicht nur eine Freundin der Überflieger, Styler, Super-Mamas, Helden und Weltenretter. Und wer weiß, vielleicht wird dann unser Normal der Ort an dem das Besondere geschieht. Ein Alltag durchzogen von besonderer Großzügigkeit, Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Verständnis und Hilfsbereitschaft. Liebe kann man nämlich nicht auf Instagram posten. Und vielleicht ist dieser Wunsch nach den extrem besonderen Lebensumständen, dem extravaganten Lifestyle, der Mode und der Karriere nur das verschwommene Spiegelbild von unserem wirklichen Wunsch: Der Sehnsucht nach extremer Gnade, Hingabe, Vergebung, Nachsicht, Wohlwollen, Ermutigung – so unglaublich außergewöhnlich, dass sie die Macht haben jeden Alltag zu einem besonderen Ort zu machen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s