Dann kam das nächste Kapitel in meinem Hörbuch „At Home in The World“, das ich gerade beim Putzen hörte: Äthiopien. Äthiopien wird in wenigen Monaten unser neues Zuhause für einige Jahre werden. Daher war ich gespannt auf die Berichte über Kultur, Land und Leute. Doch die Autorin erzählte zunächst davon, wie sie die Familie ihres Patenkindes besuchten. Wie sie zu einer Kaffee-Zeremonie eingeladen wurden, leckeres Essen aßen und ihre Geschenke überreichten. Der Junge bekam Buntstifte und er lachte über das ganze Gesicht, denn er hatte noch nie in seinem Leben eine Packung Buntstifte besessen. Dieser Moment traf mich ins Herz. Ich setzte mich auf die Kante des frisch bezogenen Bettes und Tränen strömten über mein Gesicht. Gerade war ich durchs Kinderzimmer gegangen und hatte mich über all das herumliegende Spielzeug, all die Tiere, Bälle und Bausteine geärgert. In der Kiste im Regal lagen sicherlich mindestens vier geöffnete Packungen Buntstifte, mit denen höchstens alle paar Wochen einmal gemalt wurde. Und dieser Junge hatte noch nie Buntstifte besessen! Ich ließ mich auf mein Bett fallen und die Tränen spülten mein Make-up auf die frisch bezogenen Bettdecken. Die Ungerechtigkeit dieser Situation zerriss mein Herz. Nicht nur, dass dieser Junge keine Stifte besaß, sondern die ganze Situation, die damit zusammenhing, lief wie ein Film vor meinen Augen ab. Die Mutter des Jungen ohne Buntstifte wusste nicht, ob sie morgen genug Essen für ihre Familie haben würde. Sie hatte sieben Kinder, und wer weiß, wie viele Babys sie schon wegen mangelnder medizinischer Versorgung verloren hatte. Wer weiß, wie viele Kinder sie noch durch die Folgen der Armut verlieren würde. Ihre Lebenserwartung liegt bei 42 Jahren und sie lebt in einer Lehmhütte, deren staubigen Lehmboden sie wie jede äthiopische Frau jeden Morgen gründlich ausfegt, um danach stundenlang zur nächsten Wasserquelle zu laufen und ihrem Alltag zwischen einem kleinen Job, sieben Kindern und einem Leben am ständigen Limit nachzugehen. 

Ich weinte. Über sie, über mich und über diese Ungerechtigkeit, die zwischen uns stand.

Hier bin ich also und betrachte das verlaufene Make-up auf meinen frisch gewaschenen Bettlaken. Ich stehe vor dieser Ungerechtigkeit und will mich selbst geißeln. Es darf mir doch nicht so gut gehen! Wie unfair ist denn das bitte? Das schlechte Gewissen überkommt mich, als ich meine Welt und die der misshandelten Frauen gegeneinanderhalte. Und all meine „Erste-Welt-Probleme“ scheinen in diesem Moment so unwichtig, als wären sie es nicht wert, überhaupt beachtet zu werden. Wen interessiert denn schon ein übergroßer Kredit, der meine Seele überfordert, wenn ich weiß, dass mein Tageseinkommen dem Jahreseinkommen von Frauen am anderen Ende der Welt entspricht? Und wen interessieren denn bitte depressive Verstimmungen und Uneinigkeiten mit meinem Ehemann, wenn diese Frauen dort gefoltert und missbraucht werden? Wie kann ich mich in meinem Beruf ungerecht behandelt fühlen, wo doch so viele Frauen nicht einmal lesen und schreiben lernen durften?

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Doch was, wenn unsere Probleme und Sorgen auch dazu dienen können auf der anderen Seite der Welt einen Unterschied zu machen? Wir wissen, wie es sich anfühlt, ungerecht von unserem Chef behandelt zu werden, deshalb können wir uns umso besser vorstellen, wie es sich anfühlen muss, von der ganzen Gesellschaft ungerecht behandelt zu werden. Wir wissen, wie es sich anfühlt, als Frau auf der Straße als Sexobjekt wahrgenommen zu werden, deshalb werden wir umso mehr von Mitgefühl gepackt, wenn eine unserer Schwestern ihrer freien Sexualität beraubt, verstümmelt und missbraucht wird. Wir kennen die Gefühle und die Ungerechtigkeit im Ansatz. Und wer weiß, vielleicht sind wir nicht nur zum Selbstzweck frei und auf dem Weg in eine gleichberechtigte Gesellschaft? Wir leben in einer Welt, in der Frauen schon so viele Rechte und Freiheiten haben, dass wir helfen können, anderen Frauen ihre Rechte und Freiheiten zu verschaffen. Wir dürfen uns entscheiden: Wollen wir dieser ungerechten Realität ins Auge sehen und uns von unserem schlechten Gewissen fertigmachen lassen? Dadurch wird niemandem geholfen. Selbst wenn du dich selbst als Sklavin verkaufen und verstümmeln lassen würdest, nur damit du kein schlechtes Gewissen mehr haben musst, dass es dir besser geht als anderen, wäre niemandem geholfen, dir selbst am allerwenigsten. Wir können den Vergleich aber nutzen, um uns bewusst zu machen, wie gut es uns – trotz unserer täglichen Sorgen – geht. Wir können die Gegenüberstellung von unserer und ihrer Welt nutzen, um unser Herz brechen zu lassen, und unser von Liebe gebrochenes Herz kann die Welt verändern und der Ungerechtigkeit entgegentreten. Jede von uns kann sich bewegen lassen und jede von uns kann den Unterschied machen. Wir alle haben eine Stimme bekommen, um anderen eine Stimme zu geben! 

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Hier sind ein paar Ideen, wie wir das tun können, und ein paar Wege, auf denen ich es liebe, einen Unterschied zu machen:

Wir können offenbarende Frauen sein. Frauen, die im Alltag immer wieder zum Ausdruck bringen, dass all unsere Probleme in Relation mit Problemen von Frauen weltweit gesehen werden sollten. So wie ich in diesem Buch die Fakten aufgeschrieben habe und kein Blatt vor den Mund genommen habe, können wir das auch im Alltag tun. Immer wieder habe ich Gespräche mit Menschen, die einfach nicht wissen, was am anderen Ende der Welt passiert. Aber wir können durch unsere Worte ihre Realität hierherholen. Wir können diese von der Politik, Gesellschaft und weltweiten Gemeinschaft vergessenen, verlassenen Frauen sichtbar machen.

Wir können aufmerksame Frauen sein. Seitdem ich „Straßenpädagogik“ studiert habe und dadurch Woche für Woche herzzerreißende Biografien und Fakten von auf der Straße lebenden Kindern an mich herangetragen werden und seitdem ich weiß, dass wir im nächsten Jahr nach Äthiopien ziehen werden, merke ich, wie sich die Gespräche mit meinen Freundinnen verändern. Wir sprechen oft über den Alltag und über die Kinder und unsere kleinen und großen Ängste und Freuden. Doch immer wieder ertappe ich mich in letzter Zeit dabei, wie ich ganz automatisch beginne, darüber zu sprechen, wie gut wir es haben, weil ich gerade gestern erst von einer zwölfjährigen Mutter auf den Straßen Kolumbien gelesen habe. Ich erzähle, wie dankbar ich bin, dass ich weder missbraucht, noch vergewaltigt, noch beschnitten bin, weil ich erst am Vortag Statistiken darüber gelesen habe, wie viele Frauen das tatsächlich betrifft. Man könnte meinen, dass diese Fakten unseren Gesprächen eine dunkle Decke des schlechten Gewissens überziehen oder dass ich meinen Gesprächspartnerinnen damit das Recht nehme, ihre Sorgen ernst zu nehmen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Viele Menschen, denen ich diese Fakten erzähle – eigentlich die meisten – reagieren zunächst schockiert und überrascht. Doch danach entwickeln sich oft die wertvollsten Gespräche über den wirklichen Lebenssinn, über alles, wofür wir dankbar sein können, und darüber, wie wir einen Unterschied machen können. Unsere Erste-Welt-Probleme-Gespräche bekommen plötzlich eine neue Tiefe, einen weltweiten Horizont und einen viel bedeutsameren Inhalt. Das alles geschieht nicht, weil ich selbst schon wirklich etwas bewegt hätte oder die zweite Mutter Teresa bin, sondern nur, weil ich informiert bin. Denn wovon mein Herz voll ist, davon läuft mein Mund über. Und weil es direkt aus meinem Herzen kommt, tötet es meine Gespräche nicht, sondern belebt sie. Wir können einen Unterschied machen, indem wir unsere Herzen mit der Realität der Frauen am anderen Ende der Welt füttern. Und den Schmerz zulassen. Und den Ekel und die Hilflosigkeit. Wir können unseren Blick zu ihnen wenden und dann werden wir automatisch von dem erzählen, was wir gesehen haben.

Wir können unseren Einfluss nutzen. Wo auch immer wir Verantwortung tragen, können wir unseren Einfluss zugunsten der Frauen in Gefangenschaft nutzen. Wir Mütter können unseren Töchtern und Söhnen ein Bild von einer großen und ungerechten Welt aufmalen und sie zu mutigen, starken, umsichtigen und emphatischen Frauen und Männern erziehen. Ich hatte eine Schulkameradin, die kannte alle Kontinente, Flüsse, Länder, Hauptstädte und deren Geschichte schon in der Mittelstufe ganz selbstverständlich auswendig. Sie sagte, über ihrem Küchentisch habe immer eine Weltkarte gehangen und ihre Mutter habe sich mit ihr und ihren Schwestern beim Essen oft über die weite Welt und das, was in ihr geschieht, unterhalten. Wir Leiterinnen und Chefinnen können unsere Teams zu Social Days, Spenden und gemeinsamen Aktionen ermutigen. Was wäre, wenn man über uns einmal sagt: „Sie hat nicht nur uns als Team und unsere Aufgabe gesehen, sondern sie hatte die ganze Welt im Blick?“

Wir können fair konsumieren. Oft sind es nicht die großen Taten, aber ich merke, wie es mein Denken verändert, vorzugsweise fair produzierte Kleidung und Kaffee zu kaufen. Ich habe angefangen, die Näherinnen und Kaffeepflückerinnen in Afrika, Asien und Lateinamerika als meine Nachbarinnen zu sehen. Und plötzlich konnte ich ihnen dieses Leben nicht mehr antun. Ich wusste: „Nicht mit mir. Das nehme ich nicht auf meine Kappe.“ Es ist vielleicht ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ein Meer besteht auch aus tausenden Tropfen. Also versuche ich, Second-Hand-Kleidung (das schont die Umwelt und den Geldbeutel) oder Fair-Trade-Kleidung zu kaufen und kaufe den Kaffee am liebsten aus dem Direkthandel – der schmeckt sowieso besser! Kleidertauschpartys sind ebenfalls eine gute Möglichkeit, Geld zu sparen, das man dann für die teurere Fair-Trade-Kleidung verwenden kann.

Wir können beten. Unser Gebet verändert nicht nur die Situation am anderen Ende der Welt, sondern auch die in unserem Herzen. Wir geben den Problemen anderer einen Raum in unserem Leben, in unseren Worten und Gedanken und machen sie zum Thema unserer Beziehung mit Gott. Wir machen damit die Anliegen von Jesus zu unseren, und wer weiß, was er dadurch noch mit uns tun wird? 

Wir können hingehen. Oft scheint es so, als seien die Leute, die in Entwicklungsländer reisen, um anderen zu helfen, Menschen von einem anderen Stern. Hier schlägt der „Evangelikale Helden-Komplex“ richtig zu. Aber das stimmt nicht! Ich werde jetzt zum zweiten Mal nach Afrika ziehen und ich kann versichern, ich bin ganz normal. Der einzige Unterschied zwischen einem gemütlichen Leben im wunderschönen Hamburg und einem Abenteuer in Äthiopien ist meine freie Entscheidung. Du bist immer nur eine Entscheidung von einem neuen Leben entfernt. Ganz sicher sollten wir nicht alle unsere Heimat verlassen, auch in den deutschsprachigen Ländern gibt es viele wichtige Aufgaben. Aber diejenigen, die sich dazu berufen fühlen, ins Ausland zu gehen, sollten sich von nichts in der Welt davon abhalten lassen. Es sind nicht die besonderen Menschen, die gehen. Es sind die normalen Menschen, durch die Gott besondere Dinge tut. Und manchmal gehen wir dazu einfach in unsere Nachbarschaft.

Wir können geben. Nicht jede von uns ist dazu berufen, selbst praktisch der Not am anderen Ende der Welt zu begegnen. Aber jede von uns trägt Verantwortung für das, was auf der anderen Seite dieser Erde passiert. Wir alle haben den Auftrag bekommen, gemeinsam über diese Erde zu herrschen und sie zu pflegen und wir können diese Verantwortung nicht einfach an Leiter und Politiker delegieren. Liebe lässt sich nämlich nicht delegieren. Jede Frau in den Händen von Menschenhändlern ist unsere Verantwortung. Jedes beschnittene Mädchen ist eins zu viel. Jede unterbezahlte indische Schneiderin wird von uns nicht besser bezahlt. 

Eine Sprecherin auf einer Konferenz zu Menschenrechten gab einmal ein langes rotes Band durch die Reihen der Zuhörer. Von vorn bis in die letzte Reihe wurde das Band immer weiter durchgegeben und abgewickelt und verband am Ende hunderte Frauen miteinander. Dann sprach sie darüber, wie wir alle zusammenhängen. Nicht nur alle Frauen in diesem Raum, sondern alle Frauen. Auch die in Indien, Äthiopien, Afghanistan, Saudi-Arabien. Wenn sich eine bewegt, spüren es alle. Und wenn eine leidet, leiden alle. Wir können zwar wegsehen und es verleugnen, doch die Wahrheit bleibt: Wer, wenn nicht wir, ist für die Ungerechtigkeit auf dieser Welt verantwortlich? Und wer, wenn nicht wir, kann ihr etwas entgegensetzen? Nicht jede von uns kann selbst gehen. Und es kann nicht eine von uns alles tun. Aber alle von uns können etwas tun. Wenn wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen, dann können wir beginnen, unser Geld zu geben. Einen Euro zur Zeit – wer weiß, vielleicht werden wir eines Tages nicht persönlich zweiundvierzigtausend Menschen geholfen haben wie Mutter Teresa. Aber vielleicht werden wir zweiundvierzigtausend Euro gegeben haben – einen nach dem anderen.

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Dies ist ein Auszug aus meinem Buch „Frauen, die keinen Punkt machen, wo Gott ein Komma setzt“. Auf dieser Seite erfährst du mehr darüber. Wenn du auch gern etwas geben möchtest, lade ich dich herzlich ein unser Projekt in Äthiopien zu unterstützen. Wir gehen, und jeder kann ein Teil davon sein! Ein Video von Sisterhood und wie sie mich mit einer so schönen und bewegenden „Tat der Veränderung“ überraschten, kannst du dir hier ansehen.

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3 Antworten auf „Wir haben eine Stimme, um anderen eine zu geben

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