Ich bin ganz allein in meiner Küche. Und würde mich jemand beobachten, wäre dies vielleicht ein Bild absoluter Glücklichkeit.

Mein Blick fällt auf die Fensterscheiben in denen sich das Licht bricht. Es bricht, weil sich von außen getrocknete Regentropfen auf die Scheiben gelegt haben und von innen Abdrücke von fettigen Kinderfingern in der weichen Novembersonne sichtbar werden. Ich schneide mit weißen Gummihandschuhen tiefdunkle Rote Beete in Scheiben, lasse genüsslich Olivenöl darüber laufen und zerdrücke den frischen Fetakäse mit meinen Fingern.

Und fluche laut.

„Das hat sie nicht gesagt!“ Während ich wütend die viel zu festklebenden Latexhandschuhe wie Kaugummi von meinen Händen in den Plastikmüll ziehe. Es knallt, als sie sich endlich vom letzten Finger lösen.

Über meine Kopfhörer höre ich „The Woman They Wanted“ von Shannon Harris. Das Hörbuch war mir irgendwie über den Weg gelaufen. Reine Bauchentscheidung. Und jetzt merke ich, dass dieses Buch und mein Leben, viel verwobener sind als ich geahnt hatte. Plötzlich erinnere ich, wie ich als Teenagerin das Buch „Ungeküsst und doch kein Frosch“ – dessen Autor der Exmann meiner Autorin ist – in den Händen hielt. Ich war damals schon vom Vorwort abgestoßen. Doch man versuchte mithilfe dieses Buches – erfolgreich – die Purity Culture der evangelikalen US-Amerikaner auch in unserer kleinen, unschuldigen Kirchenjugend zu etablieren.

Aufklärungsgespräche hatte niemand führen wollen, aber die Idee dieses Buches machten sie ja zur Erleichterung aller Beteiligten auch scheinbar vorerst überflüssig. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Nur meine konnte ich nicht halten. Widersetzte mich dem Buch, der Kirchenleitung, den Eltern und sagte dann in meinen Zwanzigern doch plötzlich nicht mehr, was ich damals so leidenschaftlich vertreten hatte. Und diese Geschichte erzählte mir nun Shannon Harris hier im Novemberlicht in meiner Küche. Eine Geschichte. Unsere Geschichte. Ihre Geschichte, die meiner viel zu ähnlich war. In deren Licht meine irgendwie noch viel kaputter aussah, als ich mir bisher erlaubt hatte zu sehen.

„Was wäre, wenn du die Krisen auslöschen könntest?“ hatte vor einiger Zeit ein Coach irgendwo im Internet gefragt.

Das Kindheitstrauma, die Fehler der Jugend, die naive Rechtgläubigkeit der Zwanziger und die psychischen Herausforderungen der Dreißiger? All das hat Spuren hinterlassen und lässt mich hier in der Küche fluchen. Ich spüre die Wut in meinem Bauch, mein Blut, wie es schneller fließt und die Tränen in meinen Augen. Manchmal wäre es schön, mir vorzustellen, all das einfach löschen zu können. Ich würde meine Krisen loswerden. Und dann frei zu sein. Frei von den Verletzungen, der Schuld und all dem Dazwischen.

„… aber die Bedingung, die Krisen zu löschen, wäre auch zu verlieren, was du aus ihnen gelernt hast.“

„… aber die Bedingung, die Krisen zu löschen, wäre auch zu verlieren, was du aus ihnen gelernt hast.“ Hieß es weiter. Spannender Gedanke. Ich lasse mich mal drauf ein. Würde ich das wollen?

Mein Kindheitstrauma hat mich wissen lassen, dass ich mich auf mich verlassen kann. Meine Fehler der Jugend haben mir die Welt erklärt und das Scheitern meiner Rechtgläubigkeit hat meinen Blick auf andere weich gehalten. Die psychischen Herausforderungen der Dreißiger haben mir gezeigt, dass meine Ängste nicht meine Wegweiser sind und mir dennoch etwas sagen können. Wer wäre ich ohne all das? Und wie wäre ich? Wäre das wirklich besser?

Ich hole die Rote Beete aus dem Ofen. Sie hat genau die richtige Konsistenz. Nicht mehr hart, aber auch nicht ganz durchgegart. Der Feta ist an manchen Stellen etwas gold gebacken und liegt cremig weich und warm auf der Gabel. Alles perfekt und glücklich für einen Moment. In der Auflaufform funkelt die rote, ölige Sauce im Licht, dass durch die Glasform scheint. Die Sauce färbt den Lichtfleck auf meiner Hand neben der Form rosarot. Auch irgendwie schön. Wenn nicht alles gleich bleibt, nicht alles vorhersehbar ist.

Die Krisen haben unserem Leben neue Facetten gegeben. Wir sind zwar nicht das Produkt unserer Krisen, aber irgendwie doch verändert von ihnen, oder?

Ich glaube, du warst schon immer du selbst, hast dich manchmal aus den Augen verloren, dich wieder gefunden und das immer wieder. Du entwickelst dich weiter. Du würdest dich nicht verlieren ohne deine Krisen, aber was würdest du dadurch wirklich gewinnen?

Würde es besser werden, wenn das was so geschmerzt hat aus der Erinnerung gelöscht wäre? Dass worüber wir dachten, wir könnten so nicht weiterleben. Das was so gedrückt hat, dass wir nachgeben und umlenken mussten. Was uns nachts wachgehalten und uns so krank gemacht hat, das wir Freunde um Hilfe bitten mussten. Das was uns in den Armen anderer weinen lassen hat, was uns zu Menschen macht, was uns auch irgendwie verbindet. Das verfluchte Leiden.

Irgendwie verdanken wir unseren Krisen doch auch ein bisschen wer wir heute sind, oder?

Irgendwie verdanken wir unseren Krisen doch auch ein bisschen wer wir heute sind, oder? Vielleicht ist es so, dass das Licht in seine Facetten gebrochen wurde, aber nicht gelöscht. Und deshalb ist das Überleben der Krisen auch irgendwie eine Kraftquelle geworden.

Ich bin ganz allein in meiner Küche. Und vielleicht ist es wirklich ein Glücksmoment in dem ich meine Krisen zu mir nehme.

Eine Antwort auf „Willst du deine Krisen loswerden?

  1. Ach Sarah, deine Worte kommen genau zum rechten Zeitpunkt….Lassen mich auf meine Krisen und insbesondere die aktuelle Krise anders blicken. DANKE. Drück dich, rike

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