„Fragen Sie mal Ihre Töchter“, sagt er. Und ich frage gar nichts. Frage niemanden. Frage mich nur, ob er das so gerade wirklich gesagt und gemeint hat. Mein Herz schlägt bis in den Hals und ich verstumme. Ich bin eine dieser Töchter. Ich habe diese Töchter. Und ich habe dieses überhebliche Lächeln, während er das sagt, in meinem Leben schon viel zu oft gesehen. Es lässt mich einfrieren, lässt meine Rückfragen im klopfenden Hals feststecken.
Denn meine Töchter sind auch die Töchter, die das vom amtierenden Bundeskanzler – ich hatte „unserem“ Bundeskanzler schreiben wollen, aber das fühlt sich mittlerweile fast missbräuchlich an – erwünschte Stadtbild zerstören. Töchter, die niemals infrage gestellt haben, dass dieses Land ihre Heimat ist. Das sind meine Töchter. Und würde ich sie fragen, ob Männer, die nicht dem optischen Stadtbildwunsch des Kanzlers entsprechen, von den Bahnhöfen dieses Landes entfernt werden sollten, müssten sie über ihren Vater und Bruder sprechen. „Fragen Sie mal Ihre Töchter“ hallt wie ein Trauma in mir nach. Etwas in mir denkt immer noch, es sei ein schlechter Traum. Haben wir das alle missverstanden? Das nennt man wohl Wunschdenken. Das kommt vor der Akzeptanz in Trauerprozessen.
Ich bin eine dieser Töchter. Und ich habe heute keine Angst vor den Männern am Bahnhof in der Nacht. Obwohl ich weiß, dass sie potenziell gefährlich sind. Ihretwegen habe ich als Jugendliche nachts meinen Schlüssel in der Tasche zwischen den Fingern gehabt, habe auf dem Weg nach Hause laut mit Freundinnen telefoniert und auf Partys nur so viel getrunken, dass ich in den meisten Momenten noch in der Lage gewesen wäre, nicht nur mich, sondern auch die weniger lauten Frauen zu verteidigen. Die, denen man auf der Rolltreppe unter den Rock fassen durfte und die verstummten, anstatt ihm ins Gesicht zu spucken.
Aber ich habe nicht wegen der Herkunft dieser Männer Angst vor ihnen, sondern wegen ihres Geschlechts. Des Geschlechts, das sie mit dem Bundeskanzler teilen.
Ich saß schon viel zu vielen mächtigen weißen Männern gegenüber, die so gelächelt haben wie Herr Merz, als er auf seine Stadtbildaussage angesprochen wurde. Die, anstatt einen Fehler einzugestehen, ein ekelhaftes Lächeln aufsetzten und aus Unsicherheit und Stolz ihrer furchtbaren Aussage noch ein Ausrufezeichen verliehen. Die sich nicht schämen, Geschlechterungerechtigkeit mit „Manche Dinge sind, wie sie sind“ zu kommentieren, und sich anmaßen zu entscheiden, dass man den Frauen mit einem paritätisch besetzten Kabinett keinen Gefallen tue. Die so etwas einfach so sagen und ganz nebenbei die Grenzen des hart erkämpften Unsagbaren zu ihren Gunsten verschieben, während sie mit Tweets über „Grüne und Grüninnen? Frauofrau und Mannomann?“ die Bemühungen um Gleichberechtigung ins Lächerliche ziehen. Ich saß diesen Männern gegenüber. Zu oft. Ich habe mit ihnen diskutiert und mich an ihrer mächtigen Überheblichkeit abgearbeitet. In meiner persönlichen Geschichte hatten die wenigsten von ihnen einen Migrationshintergrund. Sie waren alt und weiß und trugen die Narben der Nachkriegsgeneration unter ihrer toxischen Männlichkeit. Sie saßen nicht an Bahnhöfen. Sie trugen Anzüge, fuhren BMW und hatten eine Frau, drei Kinder und ein Einfamilienhaus.
Vor ihnen habe ich Angst. Um mich und um meine Töchter. Denn ihr Machtmissbrauch, ihre Sexualstraftaten und Unterdrückungen finden nicht an Bahnhöfen statt, sondern in Familien. In Gemeinschaften, Firmen, Konzernen, Ehen und Eltern-Kind-Beziehungen. Sie stören nicht nur das Stadtbild, sie zerstören ganze Welten.
Und während ich in den letzten Tagen die stumme Freundin in Schockstarre auf der Rolltreppe war, gab es viele von uns, die ihre Sprache vor mir wiedergefunden haben. Siebentausend, die gestern in Berlin klargestellt haben, dass wir unsere eigenen Worte finden werden, um für unsere Rechte einzustehen und unsere Ängste zu äußern. Vielleicht sind einige von uns noch fassungslos, ungläubig und sehr, sehr wütend. Doch irgendwann klopft das Herz im Hals so laut, dass wir uns umdrehen und ihm geradeaus ins Gesicht sagen: „Finger weg! Finger weg von unseren Töchtern!“ Herr Merz, von mir aus blasen Sie gern Ihren Chauvinismus und Ihr Machtgehabe in die Welt. Schlimm genug. Aber wagen Sie es nicht, uns und unsere Töchter dafür zu instrumentalisieren. Sie stehen auf der Täterseite.
Blume auf Wärmflasche
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