Gestern Abend habe ich mich mit allen Kindern ins Bett gekuschelt und einen Film angemacht. Ich hatte Fieber, mein Mann war nicht da. Das war alles, was ging. Eigentlich war es mehr, als ging, aber wir Mütter haben das Leben hinter den eigenen körperlichen Grenzen wohl so sehr normalisiert, dass es eben gehen musste. Ich habe jedoch nicht mehr kontrolliert, ob alle Zähne geputzt haben – ganz zu schweigen vom Nachputzen. Es hat sich scheiße angefühlt. Entschuldigt. Die Küche habe ich einfach so stehen lassen – das ist total gegen meine Routine. Morgen früh würde ich diese Entscheidung hassen, aber irgendwo haben dann wohl auch selbsternannte Supermütter ihre Grenzen. Ich war nicht ganz da.
Was allerdings da war, waren die unbeantworteten Briefe, E-Mails und Nachrichten in meinem Hinterkopf, die schon seit den Ferien und über den gebrochenen Daumen, den Paukererguss und die Bronchitis meiner Kinder immer wieder anklopfen und mir das Gefühl geben, mein Leben entgleite mir. In meinem Kopf stritt sich der Gedanke „Ist das denn wirklich so schlimm? Stell dich nicht so an!“ mit „Gleich schlafen alle. Die sind groß genug dafür, dass auch das jetzt ausreicht.“ Und immer wieder kam „Warum kann ich nicht einfach nur krank sein?“ dazwischen.
Wir sind so schutzlos als Mütter mit all unseren Schutzbefohlenen. Sie brauchen uns so sehr, und dieses Wissen lässt uns unsere Grenzen so weit überdehnen, bis wir uns selbst so ausgeliefert fühlen, dass ein Abend mit Fieber die Last der ganzen Mutterschaft noch einmal so richtig offensichtlich macht. Und erschöpft bin ich unglaublich anfällig für Gedanken, die mir ein schlechtes Gewissen machen. Erschöpft denke ich, ich sei der Fehler im System. Im Fieber glaube ich den Mythen.
Heute Morgen stehe ich also in meiner unaufgeräumten Küche und fülle Brotdosen. Alles läuft seinen normalen, lange geübten Gang, und als gerade alle aus dem Haus sind, fällt mir im Küchenchaos die Brotdose meiner Tochter in die Hände. Vergessen.
Es ist noch nicht zu spät zur Pause, also ziehe ich kurzentschlossen meine Jacke über Pulli und Leggings, mit denen ich mich gestern einfach ins Bett gelegt habe. Praktisch. Das breite Lächeln meiner Tochter, die gerade schon von Freundinnen mit Spenden aus ihren Brotdosen versorgt wurde, belohnt mich für meinen kleinen Ausflug. Manchmal ist es einfach schön, mit so einer kleinen Grenzüberschreitung einem Menschen so viel Liebe zeigen zu können. Später sagte sie mir: „Ich wusste, dass du sie mir bringst. Das hast du immer so gemacht“ und erzählte mir drei Geschichten, die ich längst vergessen hatte, in denen ich ihr ihre vergessene Brotdose hinterhergebracht hatte. Drei Mal in drei Jahren, und sie erinnerte sich an jedes Detail. Es ist schön, so gefühlt grenzenlos zu lieben.
Zu Hause angekommen, sehe ich die Kaninchen auf meinem Balkon um zehn Uhr ihr drittes Nickerchen machen und merke, dass ich neidisch bin auf ihr tristes, ruhiges Leben, in dem Pausen Teil des Alltags sind. Ich lege meine müden Knochen also ins Bett und gönne mir eine Weile Instagram-Reels. Dort lese ich wieder den Satz, über den ich in letzter Zeit auch im echten Leben häufiger gestolpert bin: „Fühl dich nicht schlecht, wenn sie mal einen Film gucken.“ Und obwohl er mich entlasten soll, stresst mich dieser Satz. Denn ich fühle mich, auch wenn ich gesund bin, nicht schlecht, wenn meine Kinder einen Film gucken. Und wenn ich krank bin, fühle ich mich auch bei zwei Filmen nicht schlecht. Sollte ich?
„Dann gibt es halt mal ausnahmsweise Schokomüsli zum Frühstück.“
„Dann lasse ich eben die Küche abends mal unaufgeräumt.“
„Dann gibt es eben drei Tage mal Spaghetti.“
„Dann wird das Badezimmer eben mal zwei Wochen nicht gründlich geputzt.“
„Dann fahren wir halt nur einmal im Jahr in den Urlaub.“
„Dann muss mein Kind eben mal zehn Minuten auf mich warten.“
All das können Aussagen sein, die Menschen mit dem Ziel zu entlasten aussprechen, weil sie entgegen ihrer Normalität sind. Doch sie bewirken das Gegenteil, wenn sie die Normalität der Person beschreiben, die sie hört. Vielleicht ging es dir gerade so, als du gelesen hast, dass ich meiner Tochter offensichtlich jedes Mal die Brotdose hinterherbringe. Vielleicht hast du dich bei deinem Kind dagegen entschieden? Bist du deshalb eine schlechtere Mutter? Bisher hast du das nicht so gesehen. Solltest du?
Ich glaube, wir haben es hier mit einem Mythos von privilegierten Müttern zu tun, zu denen ich auch mich zähle, die Zeit, Geld und Geduld haben, die Herbstnachmittage mit ihren Kindern mit Bastelprojekten und Waffelbacken zu füllen – anstatt mit Filmen. Auch wenn sie krank sind. Die ihren Kindern auch dann noch die Brotdosen hinterhertragen. Und die dann neidisch auf ihre Kaninchen sind, weil sie so erschöpft sind von der Last, es so gut wie möglich und eigentlich noch viel besser machen zu müssen. Doch die Realität ist, dass viele Mütter diese Ressourcen nicht haben. Auch privilegierte Mütter. Und das ist nicht schlimm. Denn in all unserer Schutzlosigkeit brauchen wir nicht noch ein schlechtes Gewissen. Der Film gestern Abend im Bett war für zwei meiner vier Kinder die dritte Stunde Medienzeit an diesem Tag. Es gibt solche Tage. Und ich will lieber mehr solcher Tage haben, als langfristig neidisch auf meine Kaninchen zu sein.
Danke!
LikeLike
so wertvoll dieser Artikel liebe Sarah! Danke dafür!
LikeLike