Heute Abend entscheiden Menschen am anderen Ende der Welt, ob ich mich ab morgen sicherer oder unsicherer in der Welt fühle.

Mein Sohn kommt nach Hause und ist genervt, dass ich ihm seine gewünschte Verabredung nicht erlaube und stattdessen auf Klavierspielen und das Buch für den Deutschvortrag verweise. Ich fühle mich wie eine Spielverderberin und er ist zumindest für den Moment überzeugt, ich sei das hauptberuflich. Das ich hier mein Bestes gebe, wird in kindlicher Naivität verkannt.

Vormittags hatte ich gewissenhaft endlich die aussortierten Kindersachen, die in Wäschekörben und Ikeatüten unser Schlafzimmer belegt hatten zum Second Hand Laden gebracht – Gott sei Dank gibt es die mittlerweile in beige! So sah der Haufen noch fast stilvoll aus. Hätte glatt Pampasgras daneben stellen können. Die gute Frau im Laden fand allerdings fast nichts ansprechend und fast alles zu sommerlich, sodass ich danach zum Kleiderspendecontainer gefahren bin um Übriges weiterzugeben. Hätte mich fast mal wieder richtig gutmenschlich gefühlt. Doch was bringt das, wenn gerade Menschen am anderen Ende der Welt jemanden zum Präsidenten wählen könnten, der die Demokratie gegen die Wand fahren will? Ich werde diesen Gedanken nicht los. Das ich da nichts machen kann, außer ein Reel über meinen Unmut ins Internet stellen und dann die ermüdenden Kommentare, dass das ja nicht für alle gilt, alle auch irgendwie ihre Gründe haben und was denn jetzt ganz genau demokratiefeindlich sei. Und ob wir woken Leute nicht eigentlich eher alle die Intoleranz für uns gepachtet hätten. Man dürfe ja nichts mehr sagen heute.

Ich kann das nicht mehr. Ich bin müde. Aber können wir uns das leisten?

Ich will einfach meinen Frieden. Doch Frieden ist nicht einfach. Und heute werden sie entscheiden.

Und damit entscheidet sich auch, ob ein Stück meiner hart verteidigten, so gut wie möglich abgesicherten Steilküste des Glaubens an das Gute in uns Menschen, daran dass die Vernunft sich durchsetzt, daran, dass das einfach nicht wahr werden darf und deshalb nicht kann… Es entscheidet sich, ob ein Stück dieser Küste hält und ich übermorgen aufstehe und mein süßes Haus des Lebens an der Küste ansehe und denke: „Es hält. Mein Leben hält. Demokratie hält. Wir haben das gerade nochmal hinbekommen. Wenn wir das dort schaffen schaffen wir das auch hier!“ Dann werde ich mich gemütlich in das kleine Haus meines Lebens dort am inneren Meer setzen, eine Kerze anzünden, einen Tee kochen und aus dem Fenster das brausende Meer der Ungerechtigkeit ansehen und mich dennoch sicher wissen. Denn meine Küste hat gehalten. Und wird es auch weiterhin tun.

Oder sie entscheiden so, das ich mich fragen werde, wohin ich jetzt gehen soll. Jetzt wo sich ein großer Teil meiner für stabil gehaltenen Steilküste ins Meer der Ungerechtigkeit verabschiedet hat. Einfach so weggebrochen ist mit einem großen Platsch verschwunden im tiefen Meer. Und plötzlich steht mein Haus so dicht am Abgrund, dass ich nicht mehr weiß, ob es dem nächsten Sturm noch standhalten wird. Ich traue mich kaum reinzugehen und fühle mich nicht mehr sicher. Dort in meinem Leben. Darüber entscheiden sie gerade dort am anderen Ende der Welt.

„Konzentriere dich auf die Dinge, die du selber in der Hand hast“ habe ich gelernt und gebe diesen Ratschlag gern an andere weiter. Das führt raus aus der Ohnmacht, rein in die Eigenverantwortlichkeit. Raus aus der Opferrolle! Ich nehme mein Leben in die Hand. Doch gerade heute, merke ich, wie wenig ich doch tatsächlich in der Hand habe und, das die Wellen der Ungerechtigkeit heute Nacht an meiner Küste rütteln und meine Hände sie nicht halten können.

Seit neustem mache ich Mealprep. Ich koche am Sonntagabend für die Woche vor. Deshalb hatte ich heute Zeit, am Nachmittag mit jedem Kind ein Gesellschaftsspiel zu spielen. Nebenbei sah ich aufs Handy. Der kleinste amerikanische Staat hat bereits zu Ende gewählt. Sechs Stimmen. Drei für Trump, drei für Harris. Mir wird übel. Wir spielen passend dazu gerade ein Spiel mit Kakalaken. Zum Glück muss ich mich dabei sehr konzentrieren, denn ich muss nicht nur neue Spielregeln, mehrere Würfel und eine Kakalake auf dem Spielfeld, sondern auch vier kleine Menschen, die mit Vorliebe gleichzeitig mit mir sprechen, im Blick haben. Das Hirn ist auf Multitaskingmodus. Gott sei Dank habe ich hier auch übermorgen noch etwas zu tun! Auch für den Fall, dass jemand einen Sitz am Steuer der Weltgeschichte bekommt, der die Demokratie gegen die Wand fährt. Und jeden Sonntag wenn ich den Kühlschrank mit Essen fülle, das ich vorher in meinem Wochenplan festgelegt habe, werde ich ein bisschen das Gefühl haben, dass ich hier etwas in der Hand habe. Zumindest unseren Kühlschrankinhalt.

Mein Sohn kommt abends nochmal ins Zimmer, wo ich gerade schreibe. Er will mir ein Gedicht vortragen. Über den Herbst und die bunten Blätter. Er findet doch wieder ich sei ganz ok und gehe jetzt gleich sein Buch weiter lesen. Ja, der Herbst und die bunten Blätter und seine leuchtenden Augen und seine kindliche Glücklichkeit, die nichts ahnt von den grausamen Wellen dort unten und mir stolz seine auswendig gelernten Zeilen vom glücklichen Leben vorträgt. Es gab Zeiten, da hat mich diese kindliche Einfachheit beruhigt. Da habe ich gemeint, ich müsse mir nur etwas davon abgucken um zufriedener und sorgloser zu sein. Doch weder ich noch irgendjemand von uns kann weiterhin so leben. Wir können es uns nicht leisten sorglos zu sein. Ich warte bis er die Tür hinter sich schließt, bis ich meine Tränen laufen lasse. Heute Abend entscheiden Menschen am anderen Ende der Welt, ob er ab morgen sicherer oder unsicherer in der Welt sein wird. Und meine Hände können die Wucht der Wellen nicht halten.

5 Antworten auf „Heute entscheiden sie, ob ich mich morgen sicherer oder unsicherer fühle

  1. leg‘ Deine Sorgen in Gottes Hände. Er hält jede Welle, ob stürmisch oder sanft. Auch am Abgrund werden wir mit Ihm sicher gehalten🩵

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  2. Liebe Sarah! Danke für dein in Worte fassen, was soviele hier in unserem Land fühlen aber nicht auszudrücken vermögen. Danke für deine Ehrlichkeit, deine Verwundbarkeit, ich erahne was das für dich bedeutet! Und umso mehr achte und ehre ich deinen Mut und deine Tatkraft. Deine Stimme zu erheben, dich für das Gute (gesunden Glauben, ein positives Menschenbild, die Demokratie…) einzusetzen und nicht stumm zu sein. Ich weiß, dass viel Trara aus einer Ecke der Christenheit kommt, wenn man sich entscheidet nicht brav zu schweigen. Umso mehr applaudiere ich dir und erfreue mich daran! Und ich wünsche dir inneren Frieden an deiner (seit heute wissen wir leider) gefallen und gebröckelten Küste – wie das geht? Ich weiß es auch nicht, aber ich hoffe wir werden es rausfinden in den nächsten Monaten… Von Herzen liebe Grüße an dich und alle, die hier mitlesen auf diesem kostbaren Blog, deine Tina

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  3. Liebe Sarah,
    mit Tränen in den Augen habe ich heute Deinen Blogbeitrag gelesen. Wieder einmal triffst Du mit Deinen Worten, was mir auf dem Herzen liegt. – Und da es schon Morgen des 6. November ist, scheint es Gewissheit zu sein, dass auf der anderen Seite der Weltkugel die Menschen anders gewählt haben als ich es mir wünschte. Deine Worte haben mir Tränen in die Augen getrieben – und irgendwie finde ich es gut zu weinen.
    Meine Tränen drücken Trauer über den Verlust des kindlichen Glaubens aus, dass letztendlich doch alles „gut“ wird und trotz aller bösen Vorahnung doch der oder die (in meinen Augen) bessere Kandidatin gewinnt. Ich weine, weil ich enttäuscht bin, dass die Welt, in die ich meine beiden Jungs geboren habe, nun noch unsicherer und vermutlich auch komplizierter wird. Meine Vernunft sagt mir: „Es ist doch gut, dass Du nicht weiter dieser Täuschung glaubst. Willkommen in der Realität.“ Ich würde meine Jungs (und auch mich) so gerne vor „dieser Welt“ bewahren – oder zumindest sie stark machen, damit sie darin bestehen können. Aber ich weiß nicht wie… Also lasse ich den Tränen weiter freien Lauf. Halte sie Gott hin. Hoffend, dass Gott weiterhin „in control“ ist, auch wenn es da in mir immer wieder Zweifel gibt.

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  4. Die Menschen haben, vermutlich, anders gewählt, als wir erhofft haben.
    Es ist, wie es ist.
    Erfreuen wir uns an den Dingen, die uns gut tun.
    Zum Beispiel an Beiträgen, wie den von dir.

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