„Da habe ich auch immer noch viele Fragezeichen“ sage ich, während mein Mund noch nach irgendetwas minzig-bitterem schmeckt, das ich zuvor versucht hatte auszuspülen. Und er entgegnet: „Ja, solche Biografien gibt es. Nicht jedes Leben hat offene Fragen. Aber bei manchen ist das so. Und das ist auch nicht schlimm.“ während er mit dem Fuss die Klappe bedient, die den Behälter öffnet, in die er seine Gummihandschuhe nach der abgeschlossenen Behandlung werfen kann. Ich habe heute also nicht nur gesunde Zähne, sondern auch auch leichteres Herz als ich vom Zahnarzt nach Hause fahre.
„Und das ist auch nicht schlimm.“ hatte er gesagt. Und ich hatte es gefühlt. Stimmt. Es war gar nicht so schlimm.
Letztens habe ich Fynn Kliemann im Hotel Matze zugehört. Ich höre gern Menschen zu, die ungerade Wege gegangen sind, die Fehler zugeben können und irgendwie den Mut finden, sie wieder zu zeigen und weiterzumachen. Eigentlich höre ich fast nur noch denen zu. Die, die keine Fragezeichen in ihrer Biografie haben, die die alle Lösungen zu kennen meinen, die deren Leben so glatt läuft wie mein Spiegel, der hier viel zu selten geputzt wird, die lasse ich ihr Leben leben. Aber hinhören tue ich dort, wo Fragezeichen sind. Wo Scheitern war. Und Fynn beschrieb das Bild von einer sehr liebgewonnenen oder wertvollen Vase. Und die Angst davor, dass sie runterfallen könnte. Aber wenn sie dann tatsächlich fällt und kaputt ist, dann ist die Angst ja weg. Und da ist was dran. Das ist auch befreiend. In gewisser Weise befreit uns der Zerbruch von den Angst vor dem Zerbruch. Und oft ist es gar nicht so schlimm, wie wir gedacht hätten.
Jetzt könnte man weiterspinnen mit Lenard Cohen „There is a crack in everything, thats how the light gets in.“ oder über japanisches Kintsugi sprechen, wo Zerbrochenes mit Gold wieder zusammengesetzt wird und hinterher ein schöneres Unikat ist, als es vorher war. Aber das klingt mir hier jetzt ein bisschen zu kitschig. Zu glattgezogen. Manche Geschichten kannst du nicht einfach so mit Goldkleber wieder glattziehen. Die kannst du auch nicht wieder schönreden. Da war das, was passiert ist, einfach zu schrecklich um nach dem „Wozu?“ zu fragen und dem Ganzen nachträglich einen höheren Sinn zu geben. Nein, manche Fragen wollen stehen gelassen werden. Manche Fragen bleiben und gehören dann einfach dazu. Die nehmen wir mit – manche vielleicht ein ganzes Leben. Ohne Goldkleber.
Doch was genau ist denn das Schöne am Scheitern? Und ich meine mit dem Scheitern nicht nur, dass ein Plan nicht aufgegangen ist. Ich meine auch das Scheitern der eigenen Hoffnungen, Ideale und Wünsche. „Der Abgrund hat einen Grund.“ hat Ulf Bastian am Sonntag in einer Predigt übers Leid gesagt. Vermutlich sind Menschen, die diesen Grund kennen auf eine Weise menschlich und demütig, die an keinem anderen Ort der Welt erlangt werden kann. Nur dort am Grund finden wir ein „Und das ist auch nicht schlimm.“ für uns und andere. Dort haben wir keine Angst mehr vor dem Fall, denn den haben wir schon hinter uns. Und hier ist es gar nicht so schlimm. Denn wir sind hier nicht allein.