Ein Ende mit Schrecken ist besser als ein Schrecken ohne Ende sagt man. Ich als Feministin konnte diesen nicht enden wollenden Schrecken für meine Hennen nur noch schwer mitansehen. Scharrlotti war schon total traumatisiert. Sie flog mit einem Affenzahn auf den Zaun zu und schaffte es nach mehrmaligen Versuchen so Krähgor, ihrem Schrecken, zu entkommen. Sie nahm damit den Zaun zwischen sich und dem Futter in Kauf, das Schlafen in Bäumen anstatt im Stall und die Gefahr von Raubtieren gefressen zu werden. Sie war lieber allein und in Gefahr als in Krähgors Nähe. Krähgor war ihr Bruder, ob Hennen das nun wissen weiß ich nicht. Es schien Krähgor auf jeden Fall nicht zu interessieren. Ich hatte ihn schlüpfen sehen, er war ein flauschiges und zahmes kleines Küken gewesen und wir hatten ihn behalten. Aus Prinzip, weil du Hennen eben auch Hähne gehören und auch, weil ein Hahn eigentlich zum Frieden in der Hühnergruppe beiträgt und die Damen gut beschützt und versorgt. Aber Krähgor hatte diesen Teil seiner Gebrauchsanweisung anscheinen überlesen. Er besprang die Hennen am laufenden Band. Sobald er wach war, dachte er nur an das eine. Er war dabei weder charmant, wie es Hähne nämlich tatsächlich sein können, noch rücksichtsvoll. Und so verbrachten die Hennen, die weniger Fluchtinstinkte aktivierten als Scharrlotti, ihr Leben auf den Ästen und Stangen des Geheges und verließen diese nur zum Fressen. Körner und Wasser bezahlten sie in unaufmerksamen Momenten mit der Gefügigkeit ihrem sexsüchtigen Hahn gegenüber. Es war chaotisch und unbefriedigend. Das Futter war ständig ausgekippt, von dem ganzen Geflüchte und Geflattere, die Eier waren schmutzig, überall war Stress. Krähgors Mutter starb eines Tages unter seiner egoistischen Herrschaft.
Es war Schrecken ohne Ende und ich wusste, ich müsste es beenden. Obwohl nein, ich wollte es. Und da liegt der Knackpunkt dieser Geschichte. Als ich Krähgors Mutter eines Morgens tot im Stall vorfand, war ich traurig. Es war schade, doch sie war gestorben und ich hatte es nicht kommen sehen und nicht aufzuhalten gewusst. Doch das jetzt war etwas anderes. Ich entschied, seinem Leben ein Ende zu machen. Ich hatte dafür gute Gründe und doch war es merkwürdig. Denn es war nicht die Natur, die diese Entscheidung traf – sondern ich. Immer wieder dachte ich an seinen Schlupfmoment.
Ich erinnere mich an den Satz einer Landwirtin in der Ard-Mediathek , die ihre Schweine auf dem eigenen Hof züchtete und schlachtete. Sie sagte: „Es ist etwas besonderes diese Tiere vom lebenden in den toten Zustand zu begleiten.“ Und das hatte ich mir vorgenommen. Ich würde Krähgor begleiten und würde meiner Entscheidung und ihrer Konsequenz in die Augen sehen. Ich würde das erste Mal dabei sein, wenn eins meiner Tiere geschlachtet wird.
Ich kannte den Hof, die Bäuerin und den Weg dorthin. Ich kannte den Raum und ich hatte mich bereits über den Schlachtvorgang von Hühnern informiert. Noch in der Dunkelheit am Morgen hob ich Krähgor aus seinem Stall in die Transportbox. Er war verwirrt, sein normaler Ablauf gestört. Aber er war auch ruhig, er kannte mich ja. Ich sagte ihm mit etwas Galgenhumor, dass ich ihm wünschte, dass die Fantasien von vielen Jungfrauen im Himmel für ihn wahr werden würden. Ich griff ihn. Meine Hände taten das in vollem Bewusstsein der Konsequenzen. Ich hatte es entscheiden. Nichts zu entscheiden wäre auch eine Entscheidung. Auch eine Entscheidung für fortlaufenden Schrecken. Aber ich entschied und handelte hier – und ich wusste es würde schrecklich werden. Es war komisch.
Ich fuhr zum Hof, hielt einen kurzen Plausch mit der Bäuerin, sie bereitete alles routiniert vor und ich gab ihr ruhig und entschieden meinen Hahn. Ich zweifelte nicht auch wenn es mir schwer fiel. Ich sah zu, alles ging sehr schnell. Ich musste nicht brechen und auch nicht raus gehen. Wir sprachen weiter. Es war geschafft. Ich wusste es war gut. Und doch hatte ich dieses Ende verantwortet. Ich hatte dem Schrecken ein Ende bereitet und es war nicht angenehm, nicht entspannt, nicht schön.
Doch ich war hier in meine Verantwortung hineingetreten und hatte sie wahrgenommen. Ich hätte lieber weggesehen, hätte lieber nichts getan. Es wäre bequemer gewesen, doch es hatte schon eine Henne gekostet. Es war ein Ende. Und ich hatte es entschieden.
Dabei wurde mir bewusst, dass es viele solcher Momente im Leben gibt. Und, dass es sich oft genau so anfühlt, wie einen Hahn zum Schlachten zu fahren. Eine Freundschaft zu beenden, eine Trennung, ein Umzug, ein Jobwechsel, ein unangenehmes Gespräch, eine Entscheidung gegen ein interessantes Angebot. Es ist anders als ein natürlicher Tod, als ein Abschied, der von höherer Gewalt bestimmt ist. Es ist ein Risiko zu entscheiden, ein Schmerz sich zu verabschieden. Oft sind andere nicht einverstanden, manchmal sind wir die einzigen, die meinen, dass das jetzt das richtige ist. Wenn traumatisierte Menschen den Kontakt zu Tätern abbrechen zum Beispiel. Oder wenn wir von unseren Familien wegziehen in eine andere Stadt – oder ein anderes Land. Wenn wir dem Chef kündigen, der uns gerade befördern wollte. Wenn wir ein lukratives Angebot ausschlagen. Wenn wir eine Ehe beenden oder eine Beziehung. Das hält immer schreckliche Momente für uns bereit. Gespräche vor denen wir einen Kloß im Hals haben. Und das Risiko, dass wir nicht wissen ob es wirklich die erhoffte Erleichterung für uns bereit halten wird. Und doch ist es unsere Verantwortung, diese Entscheidungen zu treffen. Und keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Wir sind die Besitzer unserer inneren Hähne und Hennen. Wir spüren die Unruhe und wenn wir die Ursache erkennen, dann ist es an uns, ihr eine Ende zu setzten. Vielleicht auch ein schreckliches. Aber immerhin ein Ende.
Meine kleine Scharrlotti saß noch zwei Tage ängstlich im Stall. Ich lockte sie mit ein paar Mehrwürmern nach draußen. Alle Hennen scharrten sich um mich, laufen seitdem fröhlich auf mich zu wenn ich komme, lassen sich streicheln und graben wieder fröhlich das Gehege um. Nur noch abends zum Bettfertigmachen – kein Scherz – da setzten sie auf dem Ast und pflegen ihr Gefieder. Das Futter bleibt im Napf, die Eier werden sauber ins Nest gelegt und es herrscht wieder Harmonie in Chickago. Das Schrecken hat ein Ende.
Wenn du gerade eine schreckliche, aber notwendige Entscheidung zu treffen hast. Dann wünsche ich dir Mut und Klarheit und die innere Entschiedenheit, die uns trotz mulmigem Gefühl zum Zahnarzt, zur Bäuerin oder in ein schwieriges Gespräch gehen lässt. Um dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Auch wenn es nochmal schrecklich wird.
Eine Antwort auf „Meinen Hahn schlachten. Und wie wir dem Schrecklichen ein Ende setzten.“