Andere kannten sie. Sie hatte viele Menschen in ihrem Umfeld beobachtet, teilweise begleitet und hatte doch immer eine Sicherheit in sich getragen, dass sie immer Beobachterin der Angst bleiben würde. Angst war nicht ihr Thema. Mut ihre Superkraft. Wann immer sie Angst spürte hatte sie ein bisschen mehr Mut, um mit ihr umzugehen. Ängste überwinden war eine ihrer liebsten Beschäftigungen. Immer weiter, immer schneller. Nichts konnte sie halten.

Als Kind hatte sie mal Albträume gehabt. Sie stand in einem tropischen Land in einem Dorf hinter einem Strand und sah eine unglaublich große Welle vom Meer her, auf sie zurollen. Es war klar, dass diese Welle nicht nur sie sondern das ganze Dorf mit sich reißen würde. Sie wachte auf. Immer in dem Moment in dem die Welle brach. Danach lag sie wach und schloß ihre Augen für eine Weile nicht mehr.

Sie hatte diese Träume fast vergessen, bis sie eines Tages allein und einsam die Nordseeküste entlang spazierte. In den letzten Jahren hatte ihr Leben die steile Aufwärtskurve verlassen. Sie war an sich und anderen verzweifelt, hatte Tode, Krankheiten und Schicksalsschläge erlebt, einige hatten sie tief verunsichert. Plötzlich war sie nicht mehr Beobachterin der Angst, jetzt kannte sie sie persönlich. Ihre plötzlichen Attacken, in denen sie nur atmen und überleben konnte. Wie es ihr den Hals zuschnürte, sie die Kontrolle über ihre Gedanken verlor. Die Kontrolle über ihr Leben, schien es ihr. Die Tränen der Ohnmacht und das Gefühl der Aussichtslosigkeit. Das immer wieder in der Sackgasse landen. Es hatten sie keine kindlichen Alpträume von Wellen wach gehalten, sondern das echte Leben. Sie lag wach und wollte ihre Augen nicht schließen bevor sie eine Lösung fand, bis sie mit verquollenen Augen einschlief.

Und während sie ihr Gesicht in den rauen Nordseewind hielt und sich so frei fühlte, hier allein in der Wildnis zwischen Möwen und Robben in der Ferne, erinnerte sie sich an die letzten Stürme. Wie die Flut Strände davon riss und und die gesamte Gewalt des Meeres aus ihren Träumen der Kindheit und den Bildern der Gegenwart ihr entgegen kam. Wie konnte sie sich hier frei fühlen wo sie allein und ohne Hilfe mitten in diesem gefährlichen Terrain umherlief?

Ihr Blick fiel auf den Horizont. Es war Ebbe. Das Meer weit weg und sie kannte seine Gewalt und wusste, sie würde Schwierigkeiten bekommen, wenn die Flut kommt. Doch sie wusste auch, dass Ebbe war. Sie wusste, dass das Meer kommt und geht und, dass sie jetzt gerade sicher war. Es war Ebbe und sie brauchte die Angst jetzt nicht. Sie hatte lange gelebt, als würde sie jeden Moment ertrinken – doch es war Ebbe. Sie hatte die Gewalten der Flut erlebt, der Körper in berechtigter Panik, hatte ihr signalisiert, dass es so nicht weiter geht. Sie war kurz davor, zu ertrinken. Sie brauchte Hilfe. Doch jede Flut geht vorüber, sie bleibt nicht für immer. Sie kommt auch wieder und damit zu leben ist manchmal schwer. Doch sie dauert nicht ewig.

Sie hielt das Gesicht wieder in den Wind. Richtete ihre Augen auf den Horizont wo das Wasser weit weg war und Raum für ihre Freude ließ. Hier uns jetzt war sie frei, war allein und ohne Hilfe und doch sicher genug. Und sie ließ die Schwere mit den Gezeiten zum Horizont ziehen. Hier brauchte sie keine Angst. Es würde noch genug Zeiten für Tränen geben, vielleicht würde sie wieder Angst bekommen. Vielleicht würde sie sich bald wieder nach Ertrinken fühlen. Doch nicht heute! Es war Ebbe und sie war frei und die Möwen glitten auf unsichtbaren Böen über ihr und die Seehunde genossen die Sandbänke. Und während sie ihr Gesicht in den rauen Nordseewind hielt und sich so frei und zufrieden fühlte, vertraute sie, dass gerade Ebbe ist.

2 Antworten auf „Sie braucht die Angst gerade nicht

  1. Das hat Du so schön geschrieben! Zu wissen, dass nach schweren Zeiten auch wieder gute Zeiten kommen , dass kann einen schon sehr aufrecht erhalten. Gerade in Momenten, wo man meint, dass es nicht weitergeht und einem die Kraft zum Weitermachen fehlt.

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