„Vielleicht wachen wir morgen einfach auf, und lesen in den Nachrichten: „Sorry Welt, wir haben uns geirrt. Diese Corona-Sache hat sich aus diesen und jenen Gründen erledigt.“ Dann fliegen wir übermorgen wieder nach Äthiopien und machen dort weiter wo wir aufgehört hatten.“, denke ich ab und zu. Es fällt mir so schwer, die Situation wie sie gerade ist zu akzeptieren. Es kann doch nicht sein, dass die ganze Welt den Stecker gezogen bekommt. Wie kann das sein? Das darf nicht sein. Ich will das nicht. Aber höchstwahrscheinlich werden wir nicht zurück fliegen. Nicht morgen und nicht übermorgen. So sehr ich es mir auch wünsche.

Aber wie bin ich überhaupt hierher nach Hamburg gekommen? 

Vor neun Tagen wurde in Äthiopien der erste Fall von Corona offiziell bestätigt. Vor acht Tagen fragte mich mein Mann in der Küche nebenbei: „Hast du eigentlich schonmal darüber nachgedacht, nach Deutschland zu fliegen?“ und ich fiel aus allen Wolken. „Nein, überhaupt nicht.“ antwortete ich kurz und klar. Vor sechs Tagen sagte er mir, dass der glaube, es wäre besser wir würden fliegen. Ich war nach wie vor anderer Meinung, willigte aber ein mit unsere Organisationen, der Botschaft und Ratgebern zu sprechen. Vor fünf Tagen saßen wir in unserem Garten in Äthiopien während die Kinder durch den Rasensprenger liefen und er sagte: „Der Flug ist noch zehn Minuten reserviert. Ich glaube es ist gut, wenn wir fliegen. Kannst du mir vertrauen?“ Und ich sagte: „Ja.“ Bis hierhin ist die Geschichte klar. Und doch gibt es drei Geschichten, die diese Geschichte umrahmen. Drei Geschichten zwischen denen mein Hirn hin und her springt, die miteinander tanzen und um mich werben und von denen ich doch keiner so richtig glauben will.

Die erste Geschichte wird aus Sätzen wie „Wir werden in Afrika noch Bilder sehen, die wir nur aus Thrillern kennen.“ vom wohl bekanntesten Virologen Deutschlands gespeist. Und aus Erzählungen von überfallenen Joggern, die in Äthiopien mit Steinen beworfen und als „Corona“ beschimpft werden. Diese Geschichte wird davon unterstützt, dass es in Äthiopien vermutlich nicht wenig Coronainfizierte, sondern einfach nur kaum Tests gibt. Und weil es kaum Krankenhäuser gäbe um die Infizierten zu behandeln, ist dies vielleicht auch gar nicht so bedeutsam. Es ist die Geschichte einer Ausreise auf den letzten Drücker, während weltweit die Grenzen geschlossen werden und wir gerade noch in letzter Minute durch den Türspalt huschen können. Diese Geschichte wird unterstützt von Menschen mit Masken in unterschiedlichsten Farben und Formen am äthiopischen Flughafen. Sie wird genährt von dem schockierenden Ankommen am unerwartet leeren Flughafen in Wien, von heruntergefahrenen Ladengittern, Ausgangssperren und der immer wieder hallenden Durchsagen „We kindly ask you to keep at least two meters distance“ während wir zehn Stunden lang am menschenleeren Flughafen sitzen und ein Flug nach dem anderen gestrichen wird. Und diese Geschichte lässt den Abflug mit den letzten Flugzeug aus Wien mit nur 17 Personen an Board über die vielen geparkten Flugzeuge, die nun, wie wir, erst einmal auf unbestimmte Zeit im Heimatland parken werden, mehr nach einer Evakuierung aussehen als nach einem normalen Abflug. Eine fünfunzwanzig Stunden lange Reise an deren Ende, als wir endlich bei meinen Eltern im Wohnzimmer sitzen, uns eine Email vom auswärtigen Amt erreicht: „Wir raten allen Deutschen im Ausland, schnellstmöglich nach Deutschland zu reisen.“ gepaart mit der Information der Fluggesellschaften: „Ein gebuchter Flug ist keine Garantie dafür, dass sie fliegen werden.“ Dies ist die Geschichte davon, wie wir gerade noch rechtzeitig genau das richtige taten und dankbar sind, nun in Deutschland zu sein. 

Es gibt auch noch eine zweite Geschichte. Es ist die Geschichte, die ich wahrscheinlich gelebt hätte, wenn mein Mann nicht so überzeugt gewesen wäre zu fliegen. Diese Geschichte zeigt Bilder von sorglos spielenden Nachbarskindern einer durchmixten internationalen Community mitten in der Hauptstadt Äthiopiens. Es zeigt ruhige, entspannte und sich gegenseitig unterstützende Familien, die diese Zeit gemeinsam durchleben – und teilweise sogar genießen. Die Geschichte zeigt, dass in Äthiopien eigentlich alles noch ganz normal und ruhig abläuft – nur der Rest der Welt dreht durch. Und während die Weltwirtschaft den Bach runter geht und die Menschen Masken tragen und Grenzen geschlossen werden, sitzen wir mit unseren Nachbarn im Garten und essen Wassermelone während wir abwechselnd unsere Kinder homeschoolen. Es ist die Geschichte von den ruhigen, gelassenen Auswanderern, die erst einmal abwarten und die sich zu Hause – im Ausland – so sicher fühlen, dass sie bleiben. Die Romantik dieser Geschichte wird leider immer wieder von dem Gedanken an Rückholaktionen, überfüllte Krankenhäuser, unerwarteter Ernsthaftigkeit der Lange und der Frage: „Was, wenn es irgendwann zu spät ist sich um zu entscheiden?“ gestört. Und von der Möglichkeit, dass auch diese Geschichte nur der Vorspann zu einer weiteren Geschichte ist, die so ähnlich klingt wie meine erste. Es ist die Geschichte mit dem noch ungewissen Ende. Die Geschichte, die ich am liebsten mag und die, der ich ein bisschen nachtrauere.

Und dann gibt es noch eine weitere Geschichte. Es ist die Geschichte von einer jungen Frau, die unter virtuellem Beifall vieler hunderter mit ihrer Familie nach Äthiopien zog um dort einen Unterschied zu machen. Um zu helfen. Und die, als es ernst wird und das Land unsicher wird und sich Angst breit macht, die Koffer packt und das sinkende Schiff verlässt. Es ist die Geschichte von einer die an ihren eigenen Ansprüchen verzweifelt. Die Geschichte vom Tod einer Heldin. Es ist die Geschichte, die an mir nagt, die mich fertig machen will. Die mir zeigt wie klein und schwach ich bin und die mich demütig werden lässt. Es ist die Geschichte, die sich der Verantwortung meinen Kindern gegenüber in den Weg stellen will, die Geschichte die mich versuchen will, zu bereuen.

Damit sind zwei Dinge bis hierher schonmal klar: Hier werden gerade keine Heldinnengeschichten geschrieben und ich weiß zum heutigen Zeitpunkt nicht, welche dieser Geschichten die meiste Wahrheit enthält. Ich weiß nicht, wie die Story ausgeht und was am Ende „die Moral von der Geschicht`“ sein wird und ob es überhaupt eine gibt. Oder einfach nur weltweit tausende Tote und eine Heldin weniger.

Aber ich weiß eines: Es ist nicht meine Geschichte. Es ist seine Geschichte und er kennt den Ausgang. Und darin kann ich ruhen. Kann in der Abhängigkeit die mein Nichtwissen mir offenbart Frieden finden. Kann in der Schwäche die meine Unsicherheit hervorbringt, seiner Stärke mehr vertrauen. Er hat den Stift nicht beiseite gelegt, ist nicht über der Sache mit dem Virus plötzlich verzweifelt davon gelaufen. Er hat nicht aufgehört zu schreiben. Er schreibt die Geschichte von einer, die immer weniger wusste und immer mehr vertraute. Von einer, die immer weniger Heldin war und immer mehr Tochter. Von einer, die noch nicht wusste welche Rolle sie gerade in dieser Geschichte spielt, aber die den Autoren kennt. 

Und vielleicht kann er dir auch in deiner Geschichte gerade Frieden schenken. Denn das was wir gerade erleben, hatten wohl die allerwenigsten unter uns in ihren kurz- oder langfristige Lebensplanung eingebaut. Also, lass die wenns’ und würde’s – du bist heute hier. Lass die Stürme toben – sie kennen seine Stimme. Lass die Pläne los – er hört nicht auf zu schreiben. Lass die Heldin sterben – du bist gut genug.

Und vielleicht wachen wir morgen auf und nichts ist wie es war. „Sorry Welt, wir haben das nicht im Griff.“ Und vielleicht ist das okay. Vielleicht ist es schon immer so gewesen.

 

 

14 Antworten auf „Kontrollverlust: Drei Sichtweisen unserer plötzlichen Ausreise aus Äthiopien

  1. Hallo Sarah
    In Anbetracht der Hysterie hier bei uns in Europa mit Hamsterkäufen, Unsicherheiten, etc. finde ich eure Entscheidung zurück zu kommen richtig. Klar, kann es sein, dass dein Scenario 2 eintrifft und alles seinen gewohnten Gang nimmt in Äthiopien. Es kann aber auch sein, dass es zu Nahrungsknappheit kommen kann, zu Gewalt und Chaos. Ich glaube, nicht dass Virus ist das schlimmste, sondern was es aus uns Menschen macht. Hier seit ihr vermutlich sicherer. Nur schon für eure Kinder. Ich wünsche euch ein gutes Ankommen, bleibt gesund. Gottes Segen sei mit euch.
    Danke dass, du deine Gefühle hier mit uns teilst.
    Liebe Grüsse aus der nicht weniger ungewohnten Schweiz, Corinne

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  2. Liebe Sarah,
    Ich liebe deine Ehrlichkeit, die so mutig und deutlich ist, dass sie im Herzen weh tut. Und auch wenn es das richtige ist, tut es weh, wenn Heldinnen sterben – dir und mir.
    Jesus gebe dir einen Frieden, der alle Szenarios in deinem Kopf zum Schweigen bringt und das Bedürfnis zu bewerten verstummen lässt!
    Danke, dass du diesen Sturm teilst. Es stehen bestimmt viele in Stürmen, die sicher nicht gleich sind, aber sich gleich schwer anfühlen und schwere Entscheidungen fordern…
    Der Autor macht dich zur Mutmacherin, selbst wenn du dich mutlos fühlst. Danke!

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  3. Liebe Sarah, ich kann dich total verstehen. Eine super schwierige Lage und man spielt alle möglichen Szenarien durch. Bin froh, dass ihr nun gut in Deutschland angekommen seid. ❤️
    Eine Heldin ist auch die, die sich traut kurz (oder lang) rückwärts zu gehen obwohl vorwärts gehen immer das richtige ist.
    Seid gesegnet ❤️

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  4. Danke Sarah!
    Für deinen Mut und deine Ehrlichkeit… dir und uns gegenüber! Bleibt gesund!
    Tina

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  5. Liebe Sarah, deine Ehrlichkeit berührt mich. Danke dafür. Ja, ich glaube, wir haben es nicht im Griff, und es war schon immer so. Ich weiss nicht, wie es herauskommt – aber ich kenne den einen, der die Welt gemacht hat und sie immer noch in seiner Hand hält. Seid gesegnet auch hier in Deutschland. Du machst einen Unterschied, ob in deiner Familie, in deinem Haus, in Äthiopien, oder in Deutschland. Bruder Lorenz sagte es so treffend, als ihm ein Mitbruder sagte, er werde demnächst aus dem Kloster geschmissen: „Dann diene ich Gott an einem anderen Ort.“ Er war völlig unabhängig von seinen Umständen. So zu leben, das wünsche ich mir auch. – Ach ja, und es ist ein Komma, kein Punkt… Herzliche Grüsse!

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  6. Vielleicht solltest du es einfach so sehen, wie es auch im Flugzeug gehandhabt wird.
    Erst mal sich selbst die Atemmaske aufsetzen und dann den anderen helfen.
    Und wer sagt eigentlich, dass du nicht auch aus Deutschland heraus (quasi mit aufgesetzter Atemmaske) in Äthiopien einen Unterschied machen und helfen kannst?!

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  7. Liebe Corinne, vielen Dank für deinen Kommentar. Ja, es scheint mir auch eine gute Entscheidung – vielleicht nicht die einzig richtige. Aber eine gute =)

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  8. Hi Sarah,
    vielen Dank für deine ehrlichen Worte. Ich konnte dich gut verstehen und mich selbst auch darin finden. Der Wunsch etwas Großes für ihn tun zu können und plötzlich knallt die Tür zu. Ich war den größten Teil von 2020 auf den Philippinen weil ich in der Arbeit mit Waisenkindern einen Unterschied machen wollte. Dann musste ich unerwartet früher abbrechen. Nur zum Teil wegen Corona aber die Frage wann ich das nächste Mal wieder dort hin kann nagt ziemlich an mir sowie das schlechte Gewissen. Aber mich hat der Gedanke sehr angesprochen, dass unser Vater nicht panisch die Nerven verliert und den Stift aus der Hand schmeißt. Sondern in all dem immer noch souverän ist und weiß was er tut. Auch wenn uns das manchmal wehtut weil wir es nicht wissen. Danke für deine Worte!

    Liebe Grüße,
    Deborah

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  9. Liebe Sarah.Schön,dass Ihr wieder hier seid! Entschuldigung,aber hast du mal an die zig Krankheiten gedacht,die Ihr in Äthiopien hättet bekommen können? Die hygienischen Verhältnisse sind dort sicherlich nicht so optimal.Es ist eine gute Sache,Menschen in solchen Ländern zu helfen.Jedoch gibt es hier in Deutschland,vor allem in Bremen und in Berlin,tatsächlich notleidende Menschen,die sich über eine Lebensmittel-Tüte sehr freuen.Es gibt hungernde Kinder—mitten in Deutschland! Ich habe das in der Arche in Hamburg-Jenfeld gesehen.Meine Meinung mag falsch sein,aber ich denke,wir sollten hier helfen.Übrigens gibt es–gerade in Berlin–obdachlose Familien mit Kindern! ! !

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